Rezensionen  

Unsichtbare Zügel - zweite Anprobe

Opa Münch bekommt eine Lungenentzündung: Husten, Fieber und Stechen in der Brust hat er schon. Schweißausbrüche und Schwächeanfälle kommen hinzu. Heinrich Münch ist 85 Jahre alt und er wird es wohl nicht mehr lange machen. Er wartet darauf, dass seine Enkelin Hannelore mit dem Linienbus aus der Kreisstadt kommt. Doch Hannelore ist über Ungarn in den Westen abgehauen, gleich nach der Abiturfeier: vorigen Freitag hat sie noch im Kreiskulturhaus gelacht, getanzt, geknutscht, jetzt ist sie schon in Friedland. Die Kumpels und Kumpelinen waren sehr in Ordnung, auch die Erweiterte Oberschule war an sich nicht schlecht. Nur ein Berufsleben in der real existierenden Honeckerei? Das musste doch wirklich nicht sein! Das hat Heinrich Münch emotional in ein tiefes Loch geschickt. Der eigentlich schon abklingenden Grippewelle hat er nun nichts mehr entgegenzusetzen. Soweit die Ausgangssituation des 1987 im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Romans "Unsichtbare Zügel" von Christa Giessler.

Mutmaßungen über Hanni

In einer wilden Mischung aus Krankheitserleben, Rückblenden und Fieberfantasien umkreist Giessler menschliche Beziehungen dreier Generationen in der real existierenden DDR, die Abhängigkeiten und das Manipulationserleben. In der Großelterngeneration noch beinahe schicksalhaft, für die Eltern schon verschwimmend und für die Enkelin völlig bedeutungslos. An Hannelore beißt sich die Erzählerin ihre sozialistisch-realistischen Zähne aus: abreißende Argumentationsketten, fieberhafte Mutmaßungen und die von der Kulturbürokratie damals so gescholtene "Larmoyanz" waren 1987 noch mutig. Die weltweite Systemauseinandersetzung also und die zügellose Hanni. Sicher gab es Gründe, sich für den Sozialismus zu engagieren, die Pläne überzuerfüllen, die Parolen zu verinnerlichen. Nur damit konnten junge Leute längst nichts mehr anfangen.

Dabei war der Gegenpart nicht der humorlose Antikommunismus etwa eines Franz-Josef Strauß oder Gerhard Löwenthal. Freiheit statt Sozialismus, aber die Freiheit war eine des fröhlichen Alltags-Anarchismus der Popkultur und des Rock. Dessen Jünger changierten lustvoll vom "Schnarcho zum Anarcho" (Udo Lindenberg) und baggerten, dank überlegenen Wirtschaftssystems, erfolgreich das "Mädchen aus Ostberlin" an. Sophie Liebnitz zeigte kürzlich eindrucksvoll, wie Postmodernismus und Dekonstruktion das Sprüche-Schatzkästlein dieses Alltags-Anarchismus füllten. Doch wer die historische Entwicklung nachvollziehen will, muss wohl weniger Derrida und Foucault lesen, eher etliche Jahrgänge des "Pflasterstrand" durchforsten, dazu die modernen Anarchosyndikalisten. Oder er liest Christa Giesslers "Unsichtbare Zügel", denn "hinterm Horizont geht's weiter" ...

Christa Giessler, Unsichtbare Zügel, Mitteldeutscher Verlag Halle 1987.
(Für Cent-Beträge bei Booklooker.de u. a. erhältlich.)


Drei Quellen und drei Bestandteile

 


"Macht den Umweltferkeln Dampf - Klassenkampf!" So könnte ein Spötter den Inhalt des Buchs "Zur Entstehung einer ökologischen Klasse" von Bruno Latour und Nikolaj Schultz zusammenfassen. Doch der fleißige "Impfgänger" Bruno Latour ist 9. Oktober 2022 in Paris verstorben, plötzlich und unerwartet.

"So wie einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, bedarf es heute einer ökologischen Klasse (ÖK), um den Klimawandel aufzuhalten." Das finden die Autoren und stellen sich die ÖK als Nachfolgerin der bürgerlichen Klasse und der Arbeiterbewegung vor, die einst den marxistischen Fortschrittsglauben antrieben. Die „Bewohnbarkeit“ der Erde sei das entscheidende Ziel des neuen Klassenkampfs. Dabei sei die ÖK nicht "Soros im Tütü", sondern die legitime Nachfolgerin des dritten Standes, emotionale und politische Habenichtse mit der Fähigkeit zur Solidarität.

Aber Latour war auch ethnologischer Feldforscher, der mit seinem Notizbuch die Labors und Atomkraftwerke Frankreichs durchstreifte und den Beschäftigten seltsame Fragen stellte. "Von unten die Leere des öffentlichen Raums füllen", fordert Kapitel X. des vorliegenden Buchs. Was beinhaltet nun Bewusstsein außerhalb der Mainstreammedien?

Es ist zunächst einmal auch hergestelltes Bewusstsein, von Webseiten, Internet-Blogs, Foren, Twitter, Telegram, Tiktok usw. Und drei Jahre sind eine lange Zeit, Bewegungen und Parteien sind längst mehrfach unterwandert. Ganz marxistisch gähnen uns hier drei Quellen und drei Bestandteile an. Quellen sind:

1. der Verfassungs- bzw. Staatsschutz mit seinen V-Männern und -Frauen.
2. die Trans-Atlantifa mit ihrem überfinanzierten "Kampf gegen Rächtz" und
3. die Putin-Trolle.
Die drei Bestandteile ergeben sich aus den Feindbildern der Quellen. Antifa und Putinisten kennen nur Nazis: Kack-Nazis, Fascho-Nazis und Nazi-Faschos. Ergiebiger sind da VS und Justiz, die gerne mal ihre Feindbilder ausbreiten, etwa der BGH in seinem Beschluss zur Haftverlängerung der "Lauterbach-Entführer", die u.a.

(1.) ‚Reichsbürger‘, (2.) ,Querdenker‘ und (3.) ‚Prepper‘ seien. Letzteres steht zwar nicht bei Latour und Schultz, ich kann mich aber auf ihre Methode berufen. Es kommt darauf an, etwas gegen die Leere in den Köpfen des "dritten Stands" zu tun. Die Diskussion über dieses Buch könnte ein Anfang sein.
Bruno Latour und Nikolaj Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse, Suhrkamp Stuttgart 2022, 14.00 €.

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